„Wir tun, was wir tun und die Dinge laufen halt wie sie laufen. Viel ändern kann man auch nicht, und besser ginge es zwar vielleicht, aber der Aufwand dafür lohnt kaum. Irgendwie wird es schon weitergehen und es ist ja immer irgendwie weiter gegangen.“

Die Summe unterdrückter Zweifel kann zur Verzweiflung führen

Und dann kommt der Tag der Verzweiflung, an dem man alles und jedes, alles auf einmal infrage stellt, an dem man nichts mehr von dem, was gestern noch normal und gegeben schien, mag, an dem man sein Leben, seine Arbeit, seine Beziehung, den Sinn all dessen, den Nutzen, die Effizienz, den Aufwand dafür, sein Lebensumfeld, alles einfach in Zweifel zieht und dann erst Recht an der Unmöglichkeit all das zu ändern oder aus diesem Leben heraus zu springen, verzweifeln könnte.

Man fühlt sich festgefahren, gebunden, gefesselt, unentrinnbar an sein Schicksal angenagelt, gekreuzigt, und kann dennoch mit niemandem darüber sprechen, will man nicht für depressiv oder verrückt gehalten werden.

Dabei wäre der Ansatz, dieses Gefühl als depressiv zu bezeichnen, vielleicht sogar richtig, denn man fühlt sich ja durch all die felsenschweren Lasten nach unten gepresst, es ist einem alles zu schwer, man fühlt sich beschwert. Vielleicht sollte man sich einmal erleichtern, indem man sich beschwert und beklagt. Aber bei welchem Appellationsgericht sollte man schon gegen sein eigenes, zudem noch größtenteils selbst verantwortetes Schicksal klagen können? Und wie sollte man etwa auch gar noch erfolgreich davon erlöst und freigesprochen werden?

Ja, im realen Leben kann ein Straftäter sogar hoffen, aus seinem kriminellen Leben herausgenommen und in einen Schonraum, eine für ihn vielleicht Freiraum bedeutende Zelle, wie in eine Klosterklausur gebracht zu werden, wo er neue Gedanken denken kann, in der er entlastet ist von seinem alten Leben. Aber wie soll das dem gelingen können, der nicht einmal Straftäter ist?

Gesunder partieller täglicher Zweifel

Vielleicht wäre anstatt eines kompletten Zusammenbruchs in Verzweiflung ein rechtzeitiger gesunder partieller täglicher Zweifel eine bessere Alternative. Man könnte jeden Tag einmal im Sinn einer abendlichen Selbstreflexion und Gewissenserforschung das Gute vom Schlechten zu unterscheiden versuchen, die eigene Verantwortlichkeit klären und sich gute Vorsätze für den nächsten Tag machen, und dieses Vorgehen in sein persönliches Lebensprogramm aufnehmen. Dann könnte man jeden Tag eine kleine Kurskorrektur in einer kleineren Angelegenheit vornehmen. Man hätte Gelegenheit, jeden Tag ein Stückchen mehr an Wahrheitserkenntnis, etwas mehr an Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber sowie eine größere Selbstakzeptanz hinsichtlich der eigenen Sehnsüchte und Bedürfnisse zu erreichen. Dazu käme der Vorsatz auch nach außen hin täglich klarer, transparenter und wahrhaftigerer mit den richtigen, und das heißt vor allem mit den betroffenen Menschen zu kommunizieren.

Verrückt?

Und was heißt auch verrückt? Es ist oft die Erkenntnis, das man weit weg gerückt ist von den eigenen Bedürfnissen, weit weg aus der Mitte seiner eigenen Autonomie und Freiheit, weil man vielleicht aus Harmoniebedürftigkeit in vielen kleinen Schritten auf viel mehr verzichtet hat, als man in der Summe erträgt. Ja, man ist verrückt aus seiner Lebensmitte, aus seiner inneren Identität, ist auf Spuren geraten, die nicht die eigenen Fußstapfen sind und die nicht den eigenen Weg markieren, den man vielleicht auch zu feige oder zu träge war, selbst für sich zu bahnen.

Und so schockiert man dann im plötzlichen Ausbruch angestauter Verzweiflung aufgrund mangelnder früherer Zweifel und entsprechender Kommunikation seine Mitmenschen, die dann treffend diagnostizieren, dass man offenbar verrückt ist. Aber diese Einschätzung ist wie so oft unverständig und drängt auf die falsche Konsequenz: Jemanden mit Therapie und Antidepressiva dort halten zu wollen, wohin dieser sich fälschlicher Weise hat verrücken lassen. Man erklärt dann jemanden für krank, der gerade wieder an einen Platz hin strebt, an dem er gesund und glücklich sein könnte.

Verantwortung für die Sorge um sich selbst

Und was hat das mit Verantwortung zu tun? Nun, wer sich selbst gegenüber nicht die Wachheit, Wahrhaftigkeit und Beobachtungsgabe hat mitzubekommen, dass er selbst abdriftet, dass er sich für Dinge verkauft, die ihm nicht gut tun, dass er sich auf faule Kompromisse einlässt, die ihn unmerklich von seiner eigenen Spur wegbringen, der trägt wohl schlecht Sorge und Verantwortung für sich selbst. Der trägt aber zugleich schlecht Sorge für die Menschen um sich herum und sein ganzes Umfeld, weil er unabsichtlich zwar die Voraussetzungen schafft, andere Menschen zu täuschen und zu enttäuschen. Irgendwann wird jede Wahrheit offenbar. man weiß oft nur nicht wann. Dabei kann Wahrheit selbst Sprengstoff sein. Aber es ist damit wie mit anderem Sprengstoff: In kleinen Dosen ist er ungefährlich, aber viel auf einmal davon, kann lebensgefährlich sein. Deshalb ist es gut, möglichst permanent mit seiner Wahrheit – und auch mit den Wahrheiten der anderen und auch mit den Wahrheiten der Realität – in Verbindung zu bleiben. Es ist wichtig zu reflektieren, was echt und was Schein ist, und an allem, egal wie es scheint, kritisch zu zweifeln, ja vielleicht sich sogar daran zu erinnern, dass der große Philosoph der Aufklärung, Rene Descartes, sogar den Zweifel zum obersten Prinzip seiner Philosophie erhoben hat: „Ich zweifele, also bin ich!“ Sein Schicksal selber in die Handnehmen

Wenn man in diesem zweifelnden Sinn das eigene Leben, die Bedingungen und Umstände des eigenen Seins, so notwendig und unentrinnbar sie manchmal scheinen, als nicht zwingend, als nicht notwendig betrachtet, dann kann man sich auch Möglichkeiten des Andersseins vorstellen. Dann kann man auch die Idee und den Mut fassen, Weichen auf dem eigenen Weg auch selbst wieder zu stellen, sie in andere, neue, viel gewünschtere und befriedigendere Richtungen zu stellen. Man kann das eigene Leben selbst wieder oder wieder mehr in die eigenen Hände nehmen und das eigene Schicksal stärker selbst bestimmen. Man fasst wieder Mut, neue Aufbrüche und Ausbrüche zu träumen und zu wagen, nicht im Trott zu vertrotteln, sondern mit kühnem jugendlichem Optimismus und Selbstvertrauen sich selbst zu erproben und das Leben zu wagen. Nicht spinnend und traumwandelnd, sondern den Wahrheiten der Realität Rechnung tragend. Wenn man sich dabei zur eigenen Ermutigung bewusst macht, dass selbst schweres Eisen schwimmen und fliegen kann, wenn es zum Schiff oder geformt Flugzeug geformt wird, dann kann man auch den Mut fassen, selbst ein hartes eigenes Schicksalsmaterial so zurecht zu schmieden, dass man auch damit fliegen kann.

Winfried Prost