Traurigkeit ist keine Krankheit

Eine 62-jährige Frau war 35 Jahre lang von ihrem Hausarzt mit wechselnden Psychopharmaka gegen Depressionen behandelt worden. In ihrer Familie galt sie als nicht recht zurechnungsfähig und man hatte sich darauf eingestellt, dass sie zu Feiertagen und im Urlaub depressive Schübe bekam. Man plante sie gewissermaßen gar nicht mehr wirklich mit ein und angesichts ihrer mit „Endogen bedingte Depression“ vermeintlichen klar diagnostizierten Krankheit hatte sie auch jeden Lebensmut verloren.

Nach meinen Beobachtungen als Coach in etwa 18.000 Einzelcoachings weiß ich, dass hinter jeder angeblichen Depression reale tragische Ereignisse liegen, die nicht verarbeitet worden sind. Es fehlt dann der Bewusstseinszusammenhang zwischen dem ursprünglichen Ereignis und den dazugehörigen Gefühlen. Im persönlichen Erleben nimmt man dann nur das negative Gefühl wahr und hat keinen Erinnerungsbezug zu dem verursachenden Ereignis. Im Fall der beschriebenen Dame stellte sich im Interview heraus, dass sie im Alter von zwei Jahren ihren Zwillingsbruder verloren hatte. Für ein Kleinkind ist ein solches Erlebnis kaum zu verarbeiten. Es erleidet einen Verlust, den es nicht begreifen kann. Man wird sich kaum vorstellen, dass ein zweijähriges Kind am Grab steht und weint. Es kann ja kaum sprechen und weder fragen noch verstehen, was selbst Erwachsene nicht begreifen können.

Interessanterweise brach meine Gesprächspartnern sofort in Tränen aus, also ich drei Fragen nach ihrem kleinen Bruder stellte. Sie war selbst über die Heftigkeit dieses Ausbruchs überrascht und meinte: „Ich habe noch nie darum geweint!“ Andererseits empfand sie aber auch, dass diese Gefühle seit Jahrzehnten ihr gelagert hatten. Dieser Tränenfluss konnte ausgelöst werden, als die Frau in einem entspannten Umfeld mit ihren alten Gefühlen wieder in die Nähe der Erinnerung ihres Kindheitsdramas kam. Sie fragte übererrascht:  „Bin ich gar nicht krank?“ Und ich antwortete: „Sie spüren doch eine diesem Ereignis auf gesunde Weise angemessene Trauer. Warum sollte das eine Krankheit sein?“

In ihr brach ein in Jahrzehnten aufgebautes Weltbild zusammen, in dem sie als krank galt. Jetzt durfte sie erstmals empfinden, „richtig“ zu sein. Die Krankheitsdiagnosen und ihr daraus abgeleitetes Selbstbild, dass etwas nicht mit ihr stimmte, fielen in sich zusammen. Kann es richtig sein, bei Trauer Antidepressiva zu nehmen und die Trauer damit zu betäuben und wegzumachen? Traurig zu sein mag zwar schwer sein und einen für eine Zeit belasten, ist aber dennoch eine angemessene und gesunde Reaktion. Früher hielt man beim Tod naher Angehöriger oft ein ganzes Jahr Trauerzeit ein. Man hatte sogar klare Rituale, um mit der Trauer umzugehen. Wie oft mag man wohl auf seine Trauer angesprochen worden sein, wenn man ein Jahr lang Trauerkleidung trug? Jeder konnte es sehen und jeder konnte darauf eingehen. Wie oft durfte man vom Trauerfall reden und dabei ein paar Tränen weinen? Mit wie vielen Leuten mag man beim Begräbnis, beim Trauergottesdienst, beim Leichenschmaus oder beim Sechswochenamt und Jahrgedächtnis in der Kirche seine Trauer gespürt und wiedergekäut haben? All das hat der Trauerverarbeitung gedient und hatte seinen Sinn. Aber welcher berufstätige Mensch nimmt heute noch an all diesen Ritualen teil? Es muss weitergehen, vorwärts, schnell und der nächste Geschäftstermin drängt.

Zudem kann man annehmen, dass ein Trauerfall umso stärkere Gefühle auslöst, je jünger und schmerzlicher der Betreffende aus dem Leben geschieden ist. Die Fantasie, etwas Ähnliches könne einem selbst auch passieren, führt dann bei vielen dazu, sich möglichst schnell von dem Trauerfall und ihrer eigenen Trauer abzulenken, um diese eigenen Ängste nicht zusätzlich zur Trauer spüren zu müssen.

Erst recht setzen Verdrängungsmechanismen ein, wenn man sich selbst am Leiden und Tod eines anderen mitschuldig fühlt. Aber Trauer tritt nicht nur bei Todesfällen auf, sondern kann auch eine Reaktion auf andere schwerwiegende Verluste oder Vorfälle sein: Eine Scheidung, ein Kind, das von zu Hause auszieht, ein Arbeitsplatzverlust oder auch ein Ereignis, bei dem man Opfer von Gewalt geworden ist, können zu tiefer Traurigkeit führen.

Entweder man denkt dann immer im Kreis und leidet an seiner Ratlosigkeit und Ohnmacht gegenüber dem Erlebten, oder aber man verdrängt die Erinnerungsbilder und leidet dann bildlos und erinnerungslos weiter. In beiden Szenarien ändert sich nichts, weil die Erfahrung nicht verarbeitet werden kann und die Trauer nicht dort hin platziert und abgelegt werden kann, wohin sie gehört. Gräber eignen sich dafür grundsätzlich recht gut, wenn man hingehen und sie besuchen kann. Alternativ kann man auch an anderen Plätzen von schmerzlichen Ereignissen seine persönlichen Rituale vollziehen und seiner Seele liebevoll und behutsam helfen, Abschied zu nehmen oder das Opfer oder eigene Leiden zu würdigen. Dabei kann man dann wieder mit sich selbst und seinem alten Schmerz in Berührung kommen und ihn Schritt für Schritt loslassen.

Wie das geschilderte Beispiel zeigt, lag das unverarbeitete Ereignis sechzig Jahre zurück. Es wiederzuentdecken war etwa eine Dreiviertelstunde Interview nötig. Dann brauchte es noch etwas Zeit zum Weinen, um die aktuelle Überraschung abklingen zu lassen und um noch im Gespräch den größeren Zusammenhang noch einmal zu klären und zu reflektieren.

Danach führte die Dame dann in den nächsten Wochen ein paar kleine und ein großes Ritual des Abschieds von ihrem verlorenen Bruder durch, von dem ich mit Freude berichten kann, dass nach Abschluss derselben keinerlei „depressive Einbrüche“ mehr bei ihr vorkamen, und die Dame wieder in ein normales Leben zurückfand.

Man fragt sich, warum trotz Ärzten erst nach 60 Jahren? Der Irrtum bestand darin, eine unverstandene und unbewältigte Trauer für eine Krankheit zu halten und sie zu betäuben statt aufzulösen.

 Wenn Sie für sich oder nahestehende Personen ähnliche Zusammenhänge vermuten oder für möglich halten, lässt sich das in einem halbtägigen Coaching bestens klären und die Weichen für eine Auflösung stellen. Informieren Sie sich dafür auf meiner Webseite.

Winfried Prost
www.winfried-prost.de
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