Von Winfried Prost 

„Still ruht der See“. Ja, wenn er nicht gerade durch ein Erdbeben erschüttert worden ist und ein Tsunami seinen verhängnisvollen Anlauf nimmt. In einer rotierenden Schale drängt sich das Wasser an die Ränder und ruht nicht still im Becken. Wenn man die Schale wieder langsam zur Ruhe bringt, wird das Wasser sich wieder in der Mitte sammeln und still werden. Ja, wenn sie nicht abrupt zum Stehen gebracht wird oder wenn sie nicht gestoßen wird.

Wie geht es uns in der Corona-Krise oder überhaupt schon immer in unseren persönlichen kleineren Krisen? Wir werden immer wieder durch Stress, Streit, Beziehungsdramen aus unserem Lauf gerissen und darin gestört. Vielfach kommen wir nicht einmal in der Nacht wirklich zur Ruhe, weil uns die Probleme wälzen. Ja, und viele Menschen sind in den letzten vielen Jahren nie wirklich zur Ruhe gekommen und eine innere Ruhe ist ihnen schon fast fremd geworden. Jetzt bringt uns die Corona-Krise aus unserem Lauf, lässt uns abrupt stehen bleiben, isoliert uns und wirft uns dabei auf uns zurück. Natürlich kreischen bremsende Eisenräder auf Schienen, natürlich quietschen Autoreifen bei einer Vollbremsung. Im Moment kreischt und quietscht und schüttelt es an vielen Stellen der Wirtschaft und unseres privaten Lebens.

Und dann ist es plötzlich und mit einem Male beängstigend still. Und man braucht eine lange Zeit, um sich an die Stille zu gewöhnen. Sie kann erschreckend sein, und in einem kann sich die Hyperaktivität aufbäumen und unsere Sucht nach Aktivität kann uns in die nächsten unsinnigen Hyperaktivitäten fliehen lassen. Bloß nicht zur Ruhe kommen! Bloß nicht still sein müssen, bloß nicht damit und darin alleine sein – welche furchterregende Vorstellung.

Dann müsste man wohl endlich einmal sich mit sich selbst auseinandersetzten, und das nicht einmal unbedingt freiwillig. Schau dir an, wer du geworden bist, mach dir bewusst, was aus dir geworden ist, wer du einmal warst, wer du sein und werden wolltest, und wer du jetzt bist und auf welchen merkwürdigen Wegen du dich bewegt hast und bewegst. Schau wohin und in welche Richtung du läufst, und ob das wirklich dein eigenes und selbst gewähltes Leben ist, oder ob dein reales Leben eigentlich nur ein Haufen fauler Kompromisse geworden ist.

Vielleicht kannst du ja stolz auf dein Leben sein, dann gratuliere ich dir gern. Niemand kann linear gerade Wege gehen, jeder muss Umwege auf dem Weg zu seinem Ziel nehmen. Aber ab und zu ist es wichtig inne zu halten und noch einmal zu überprüfen, ob man sich noch an seine eigenen Ziele erinnert, oder ob man sich von fremden Zielen und der Gefallsucht gegenüber anderen Menschen von seinem eigenen Weg und seinen eigenen Werten hat abbringen lassen.

Ja, vielleicht hast du deine Werte verwirklicht. Ja, vielleicht bist du deinen Weg gegangen. Ja, gewiss, du hast immer die bestmöglichen Entscheidungen getroffen und was auch immer dabei herausgekommen ist, ist das bestmögliche Ergebnis. Aber vielleicht erkennst du auch, an welchen Stellen deine damals vermeintlich bestmöglichen Entscheidungen doch unerwartete und unerwünschte Konsequenzen gehabt haben. Vielleicht kannst du das erkennen und dich aus der Einsicht darein entscheiden, dich bei einem nächsten Mal anders zu entscheiden. Statt die Klappe zu halten, doch etwas zu sagen, oder dir, statt immer drauflos zu plappern, erst einmal zu überlegen, was du zu sagen hast.

Du fühlst dich überfordert? Du weißt nicht, wie du die über all das klarwerden sollst? Nun, dafür brauchst du nicht in erster Linie einen Therapeuten oder Coach, sondern die Entscheidung und Fähigkeit still zu werden und in dich zu gehen. Und in der inneren (und äußeren) Stille die „Stimme der Stille“, das ist deine innere Stimme wahrzunehmen und ihr zu lauschen, was sie dir erst leise und dann immer deutlicher und klarer sagen wird. Du hast alles Wissen und alle Weisheit, die dich und dein Leben betrifft nämlich in dir. Nicht andere werden dir sagen können, was du willst, auch du mit deinem schlauen Kopf kannst dir das nicht sagen, sondern das kann dir nur deine innere Stimme sagen. Um sie zu hören gingen die Weisen und die Propheten in die Stille der Wüste oder einer Höhle, fasteten und leerten sich von allen Gedanken und Gefühlen des Alltags. Oft brauchten sie 40 Tage dafür, so still zu werden, dass sie die innere Stimme, die sie wegen ihrer Wahrhaftigkeit und Klarheit für die Stimme Gottes hielten, zu hören und sich mit ihr so lange zu streiten, bis sie zu einer klaren Einsicht gelangten und sich zu einem Neuaufbruch entschließen konnten. Dann aber mit ihrer Mission zogen sie los und konnten das Volk ansprechen, aufrufen und bewegen, sein Verhalten zu verändern.

Vielleicht bietet uns jetzt die Corona-Zeit, wenn so vieles in unserem Leben und unserer Gesellschaft stillsteht, eine 40-tägige Zeit für Stille. Eine Zeit, wieder auf uns selbst zu achten, uns unserer selbst und unserer wahren Bedürfnisse bewusst zu werden, die eigene innere Stimme wieder zu entdecken, sie kennenzulernen und Vertrauen zu ihr zu fassen. Es ist auch die „Bauchstimme“, von der so viele Unternehmer sagen, dass sie am besten gefahren sind, wenn sie auf diese innere Stimme gehört haben. Und wenn wir dann so wieder sinnvolle Missionen in uns entdecken, mit denen wir unserem Umfeld, unserer Welt und uns selbst dienen können, dann werden wir im Geist des Dienstes an Menschen und der Welt nach der Hyperaktivierung der Vor-Corona-Zeit und dem Stillstand in der Corona-Zeit vielleicht eine neue Epoche nach der Corona-Zeit entwerfen und verwirklichen können, die aus der Stille entworfen ist und vor allem den tatsächlichen tieferen seelischen Bedürfnissen der Menschen dient, und nicht einzig angefeuert und angedreht ist, um Menschen von sich selbst weg zu zerren und zu Konsumenten von Scheinbefriedigungen zu machen.

Höre also zuerst in der Stille auf deine echte innere Stimme aus der Stille. Wenn du dann noch einem anderen Menschen in Ruhe in die Augen schaust, spürst du schon bald, wie die Zeit stillsteht, wie du in eine Begegnung trittst, die jenseits von Zeit und der Hektik die Seele berührt und in dir Frieden bewirkt, wo du Verständnis und Geborgenheit im Vertrauen eines anderen Menschen finden kannst. Dann sei mit deiner Stille in dieser Stille und alles wird gut.