Von Winfried Prost

Quarantäne, Stillstand, Homing, ein bisschen Homeoffice und endlich einmal eine große Pause, endlich vielleicht fast mal ein Sabbatjahr? Vielleicht ist das ganze ja eine große Chance?

Und wenn wir dann zur Ruhe kommen, wenn alles, was uns sonst überschüttet, alles, womit wir uns ablenken, alles was unsere Aufmerksamkeit sonst an sich reißt, zur Ruhe kommt, wer sind wir dann? Was bleibt dann von uns übrig? Wem begegnen wir dann?

Ist es wirklich der friedliche, freundliche, glücklich entstresste Mensch, der wir gern wären, der weise über sein Leben nachdenkt und philosophiert? Oder merken wir dann, wie sehr wir uns abgelenkt haben und jede Gelegenheit unsere tieferen Gefühle zu betäuben und unsere alten Traumata zu verdrängen, genutzt haben?

Nein, das passt überhaupt nicht in unser Selbstbild, in dem wir cool und souverän, mutig und immer aufwärts unterwegs sind und alle Ängste und Depressionen längst nach vielen Therapien hinter uns gelassen haben und nur auf dem goldenen Weg des Glücks und der Gesundheit unterwegs sind.

Nein, wir verdrängen vermeintlich überhaupt nichts, sondern nehmen nur unsere Chancen wahr.

Aber der Test steht uns jetzt vielleicht allen bevor. Sogar Netflix soll möglicherweise abgeschaltet werden, damit das Internet bei so viel Homeoffice und Homeschooling nicht ganz zusammenbricht. Wer werden wir nur ohne unsere Serien sein?

Wer weiß welche Ängste und Selbstzweifel, welche Wut und Verzweiflung in uns hochkochen? Wer ahnt schon, welcher Beziehungsstress auf uns zukommt, wenn wir Wochen und Monate miteinander zu Hause sein müssen und uns nicht täglich durch die Reise zum Arbeitsplatz aus dem Weg gehen können, Wenn wir selbst im Urlaub durch Freizeit-, Sport- und Yogastress Erschöpfung simulieren und echten Kontakt zueinander vermeiden können?

Vielleicht spüren wir dann, wie sehr wir einander eigentlich schon seit Jahren auf die Nerven gehen? Vielleicht werden uns unsere Kinder, die wir in Tagesstätten, Schulen und Kinderhortbetreuungen verwahren lassen so zur Verzweiflung bringen, dass wir grob, gemein oder gewalttägig mit ihnen werden?

Vielleicht erfassen uns uralte Depressionen aus unserer eigenen Kindheit oder aus dem Familiensystem hoch, vielleicht kommen uns Opferphantasieren unserer Eltern und Großeltern noch hoch, oder die verdrängten Schulgefühle aus drei Generationen lassen uns noch selber schuldig und schlecht fühlen.

Als erfahrener Coach weiß ich, dass das möglich ist. Altlasten einer Familie können über mehrere Generationen auf subtile Weise die Gefühle, Handlungen und auch die Gesundheit der nächsten Generationen belasten und sogar zerstören. Was bei den Großeltern noch Heimatvertreibung gewesen ist, kann bei deren Kindern Depressionen und Ängste als Spur hinterlassen, und bei den Enkeln Existenzängste, Wurzel- oder Rastlosigkeit bedeuten.

Solche Gefühle drängen oft wie Wasser durch Mauerrisse durch die Risse der Masken und Fassaden des eigenen nach außen gezeigten und selbst geglaubten erfolgreichen Selbstbildes durch und lassen sie unter Schmerzen zerbröckeln. Oft ist es der permanente Kampf gegen die eigenen Ängste, der jemanden in ein Burnout treibt. Nicht die berufliche Arbeit und die Anstrengungen eines normalen Familienlebens sind es, die einen zermürben, dass könnte man schon aushalten, sondern die hintergründigen, nicht bewussten Altlasten, die alles zusätzlich belasten und die innere Lebensstimmung verseuchen können.

Die Geister der Nacht, so nenne ich diese tief im Schattenreich überlebet habenden Gefühle aus alter eigener oder vorgenerativer Lebenszeit. Wir leben mit unserer Gegenwart teils wie auf alten verseuchten alten Böden und ahnen nicht, was daraus empordampft.

Deshalb ist auch die Ruhezeit, ein vermeintliches Sabbatjahr, nicht eine Zeit des Nichtstuns und der reinen Muße, nein, es ist eine Zeit, in der eine besondere Aufmerksamkeit dem gelten sollte, was aus den Abgründen der eigenen Seele oder dem kollektiven Unterbewusstsein der eigenen Familie an unerledigten Altlasten hochkommt. Nicht die Beziehung muss infrage gestellt werden, sondern an ihr kristallisieren sich die alten Dinge. Nicht man selbst muss sich infrage stellen, sondern die eigenen Rollen und Masken, die zu Selbstbildern geworden sind, überprüfen, was daran echt und was davon irrig ist, und vor allem, was sich dahinter noch für Gefühle, Geister oder Ungeister über lange Zeiten im Keller oder Schattenreich der eigenen Persönlichkeit verborgen gehalten haben, die jetzt hochkommen.

Nein, du bist nicht unnormal, wenn du solche Geister der Nacht in dir entdeckst, denn solche Geister schlummern in jedem und können zu passender oder unpassender Gelegenheit jederzeit aufwachen. Unnormal bist du allenfalls, wenn du sie tatsächlich entdeckst und mit ihnen arbeitest, denn kollektiv sind Verdrängung und Ablenkung die Prinzipien nach denen diese Gesellschaft konsumiert und lebt.

Aber so, wie man einen alten Speicher erst entrümpeln und leerräumen muss, ehe man ihn umbauen, ausbauen und mit neuem Leben füllen kann, so muss man auch erst die Gespenster der Vergangenheit befreien, erlösen und sich auflösen lassen, ehe ein neues Licht im eigenen Leben leuchten kann.

Nutze also die Chance der langsamen Zeit jetzt für innere Reinigung und Aufräumarbeiten, dass du den Ballast der Vergangenheit loswerden kannst und dadurch neue Kräfte und neuen Auftrieb für deine Gesundheit und deinen nächsten Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt gewinnen kannst.